50 Jahre – 300 Sitzungen

Ein beeindruckendes Jubiläum der deutschsprachigen Ausgabe der Europäischen Pharmakopöe

Wie es zu einer in Deutschland, Österreich und der Schweiz textgleichen deutschsprachigen Ausgabe der Europäischen Pharmakopöe kommt

Deutschsprachige Europäische Pharmakopöe, eine Selbstverständlichkeit?

Was haben «Peptide Mapping» und «Black Cohosh» gemeinsam? Was verbindet «Additifs Pour Plastiques» und «Vaccin Varicelleux Vivant»?
Es sind alles Texte in der Europäischen Pharmakopöe – und – sie werden ins Deutsche übersetzt.
Die Europäische Pharmakopöe erscheint im Original in den zwei Sprachen Englisch und Französisch. Sie ist rechtlich bindend und regelt wichtige Aspekte zur Qualität unserer Arzneimittel sowie deren Wirk- und Hilfsstoffe. Dies in Vorschriften und Informationen, die eindeutig interpretierbar sein und auch verstanden werden müssen – unmissverständlich und klar.

Exkurs in die Vergangenheit

In den 80er und 90er-Jahren waren Werbesprüche auf Englisch sehr populär. Umfragen in den Zielgruppen ergaben jedoch, dass sie vielmals falsch verstanden wurden. Der Slogan «sense and simplicity» eines Technologiekonzerns wurde von den Kunden teilweise mit «Sinn und Einfalt» übersetzt. Will man sich solche Missverständnisse bei wissenschaftlichen, rechtlich bindenden Vorgaben leisten, die korrekt umgesetzt werden müssen? Sicher nicht! Zugegeben, die Adressaten der Pharmakopöe sind ein Fachpublikum, aber die Inhalte der Texte auch entsprechend komplex.

Damit Gesetze und rechtlich bindende Vorgaben gut verstanden werden, besteht in vielen Ländern die Verpflichtung, sie in der Landessprache zu publizieren. Als die erste Europäische Pharmakopöe herausgegeben wurde, begannen deshalb die zuständigen Arzneimittel-Behörden von Deutschland und der Schweiz vor genau 50 Jahren eine Zusammenarbeit. Am 25. Oktober 1971 traf man sich zur ersten Redaktionskonferenz und hatte ein Ziel: eine gemeinsame und fachlich korrekte Übersetzung der «European Pharmacopoeia» ins Deutsche. Ab 1977 war auch Österreich in der Redaktionskonferenz vertreten.

Über die Jahre wurde diese Aufgabe immer komplexer und umfangreicher. So wuchs die Anzahl Monographien, Methoden und Texte in der Europäischen Pharmakopöe stetig. Ausserdem wurden die Inhalte auch kontinuierlich an die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse angepasst, überarbeitet und ergänzt. Neue Wirkstoffe kamen hinzu und erforderten neue oder revidierte Methoden, eine internationale Harmonisierung begann, und ganz neue pflanzliche Drogen, die ihren Einsatz in der Traditionellen Chinesischen Therapie haben, hielten Einzug in die Pharmakopöe. 1989 wurden 30 bis 40 Texte übersetzt. 1995 waren es schon etwa 180, heute sind es etwa 400 Texte pro Jahr.

Auch die analytischen Verfahren wurden komplexer und differenzierter, so dass heute Allgemeine Texte wie «Chemische Bildgebung» und «Chemometrische Methoden zur Auswertung analytischer Daten» ihren festen Platz im Werk haben. Und nur am Rande sei noch erwähnt, dass die deutschsprachige Ausgabe der Europäischen Pharmakopöe, wie auch das Originalwerk, schon lange nicht mehr ausschliesslich in Papierform, sondern auch elektronisch erscheint, was für die Anwender sehr praktisch ist, aber auch zusätzlichen Aufwand bedeutet.

Zurück in die Gegenwart

Mittlerweile besteht die Europäische Pharmakopöe aus mehr als 3000 Texten. Das Grundwerk wird alle drei Jahre neu aufgelegt, dazwischen erscheinen acht Nachträge. Das gibt den Takt für die Übersetzung grundsätzlich vor und setzt einen engen Terminplan.

Die deutschsprachige Ausgabe eines Grundwerks oder Nachtrags der Europäischen Pharmakopöe zu erstellen ist ein anspruchsvoller Prozess. Daher erscheint sie etwa 6 Monate (bei einem Nachtrag) und bis zu 12 Monate (bei einem neuen Grundwerk) nach Inkraftsetzung des Originals. Nun ist aber das Original nicht immer fehlerfrei. Da man keine Fehler übernehmen möchte, die in der nächsten Ausgabe des Originals schon korrigiert werden, richtet sich der Blick auch immer nach vorne. Wird in einer der nächsten Ausgaben im Original ein Fehler korrigiert, so wird diese Korrektur in der Übersetzung vorgezogen. Dieses Vorziehen ist nur bei Fehlerkorrekturen möglich. Weitere Änderungen können jedoch nicht vorgezogen werden, denn die Übersetzung muss so nah wie möglich am Original bleiben.

Sobald eine neue Ausgabe des Originals veröffentlicht ist, wird mit der Übersetzungsarbeit begonnen, so dass in der Regel an mehreren Ausgaben parallel gearbeitet wird. Ein neues Grundwerk wird immer zum Anlass genommen, systematische Anpassungen einzupflegen. Das können auch sprachliche Neuerungen sein, denn auch die Sprache verändert sich. Sprach man früher noch von «Joddämpfen» ist heute «Jodgas» der korrekte Begriff. Daher werden im Rahmen der Übersetzungsarbeit an einem Grundwerk alle der zurzeit etwa 3000 Texte überprüft.

Die Redaktionskonferenz

Als steuerndes und beschliessendes Gremium tagt etwa 10 Mal im Jahr die Redaktionskonferenz. Sie ist zusammengesetzt aus Vertreterinnen und Vertretern der zuständigen Behörden der drei deutschsprachigen Länder, der Schweiz (Swissmedic), Österreichs (Bundesamt für Sicherheit und Gesundheitswesen) und Deutschlands (BfArM, Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte sowie das PEI, Paul-Ehrlich-Institut), zusätzlichen Fachpersonen aus diesen drei Ländern und den Mitarbeitenden des Fachlektorats «Arzneibuch» des Deutschen Apotheker Verlags in Stuttgart. Die letzte Entscheidungskompetenz liegt bei den Behördenvertreterinnen und -vertretern. Aber ohne die grosszügige Unterstützung des Verlags, der neben dem Lektorat die gesamte Infrastruktur für den Druck und auch die Erstellung der online-Version bietet, wäre das «Projekt» der deutschsprachigen Ausgabe wohl kaum realisierbar. Das Gremium Redaktionskonferenz ist interdisziplinär aus Pharmazeutinnen und Pharmazeuten, Biologinnen und einem Veterinärmediziner zusammengesetzt. Dies ist im Hinblick auf die Bandbreite der zu übersetzenden Texte ein grosser Vorteil. Dieses Jahr konnte die Redaktionskonferenz die 300. Sitzung feiern.

Alle neuen und grundlegend revidierten Texte werden in der Redaktionskonferenz ausführlich besprochen. Die Übersetzungen kleiner Textrevisionen, Ergänzungen oder Berichtigungen werden von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags direkt umgesetzt und dann in der Redaktionskonferenz kontrolliert, ggf. angepasst und gutgeheissen. Auch die Arbeitsverteilung erfolgt in diesem Gremium. Die Tatsache, dass sich auch für die Übersetzung des kompliziertesten Texts bisher immer schnell ein Freiwilliger oder eine Freiwillige gefunden hat, ist ein Zeichen für die hohe Motivation jeder/jedes Einzelnen, sich auch intensiv in ein neues oder unbekanntes Gebiet einzuarbeiten.

Am Anfang steht das Wort – Das Manuskript

Für einen neuen oder umfassend revidierten Text erstellt ein Mitglied der Redaktionskonferenz einen ersten Übersetzungsvorschlag, «Manuskript» genannt. Es wird an alle Teilnehmer der Redaktionskonferenz verschickt, von diesen gelesen und korrigiert. An einer Sitzung der Redaktionskonferenz werden diese Texte besprochen, verbessert und verabschiedet. Unterschiedliche Übersetzungsvorschläge werden eingehend diskutiert und dabei wird auch mal um einzelne Wörter gerungen. Ist man sich bei bestimmten Begriffen oder Passagen nicht sicher oder uneinig, so wird ein Auftrag zur Recherche oder weiteren Abklärung an ein Mitglied der Redaktionskonferenz erteilt.

Nicht immer sind das französische und englische Original gleich gut als Vorlage geeignet. So wird im französischen «l’agitation» sowohl für das Rühren als auch für das Schütteln einer Lösung verwendet. In den englischen Texten hingegen wird klarer zwischen «stirring» und «shaking» unterschieden. Hier entscheidet die englische Differenzierung, wie man die Bond’sche Frage «gerührt oder geschüttelt?» in der deutschsprachigen Fassung beantwortet.

Um sicherzustellen, dass wiederkehrende Ausdrücke immer gleich übersetzt werden, beschliesst und pflegt die Redaktionskonferenz gewisse Konventionen, die es bei der Manuskripterstellung zu berücksichtigen gilt. Dabei wird auch auf die feine Differenzierung kleiner Unterschiede im Original geachtet. So wird die Anweisung «Cool to room temperature» als aktiver Vorgang gesehen und mit «wird auf Raumtemperatur abgekühlt» übersetzt. Während «allow to cool to room temperature», als passiver Prozess verstanden und mit «wird auf Raumtemperatur erkalten gelassen» übersetzt wird.

Diese sprachlichen Konventionen werden übrigens auch in die nationalen Pharmakopöen, in der Schweiz also in die Pharmacopoea Helvetica (Ph. Helv.), übernommen. Da die Ph. Eur. und die Ph. Helv. in der Schweiz «die» Pharmakopöe darstellen, soll diese Zusammengehörigkeit auch sprachlich zum Ausdruck kommen.

Die Druckfahne

Der Verlag erstellt anschliessend aus dem «Manuskript» eine sogenannte «Druckfahne», auch «Fahne» genannt. In diesem Stadium wird der Text in das erforderliche einspaltige Format gesetzt. Die Abbildungen und ihre Platzierung sind aber noch nicht in der finalen Form.

Diese «Fahne» kommt in einer der nächsten Redaktionskonferenzen auf den Tisch, im einfachen Fall nur zur Kontrolle. Diese ist wichtig, denn das Setzen eines Manuskripts erfordert noch viel «Handarbeit», insbesondere bei Formel-Ausdrücken und Gleichungen. Aber auch die Autokorrektur kann manchmal allen einen Streich spielen, wenn sie zum Beispiel aus dem «Signal-Rausch-Verhältnis» plötzlich ein «Signal-Rauch-Verhältnis» gemacht hat. Wenn erforderlich, werden auch die noch offenen Punkte und die Ergebnisse der eventuell zuvor erteilten Abklärungsaufträge besprochen und eingearbeitet.

Der Umbruch

Danach ist wieder der Verlag gefordert, denn nun werden die Korrekturen und Ergänzungen in die Fahnen eingearbeitet. Der finale Text entsteht, der ausserdem jetzt in den richtigen, für die Pharmakopöe typischen zweispaltigen Satz gebracht (umgebrochen) wird. Texte und Abbildungen sowie Tabellen und Strukturformeln werden spätestens jetzt eingefügt und an die richtigen Stellen gesetzt. Es entsteht der im Verlagsjargon genannte «Umbruch». Auch er wird von einem Teil der Redaktionskonferenz nochmals auf die letzten Korrekturen hin überprüft. Allfällige Fehler werden direkt dem Lektorat gemeldet.

Hat man danach eine einheitliche deutschsprachige Ausgabe? Nicht ganz. Denn es gibt tatsächlich feine länderspezifische Unterschiede in den Titeln und der Aufmachung. Während das Werk in Deutschland und Österreich «Europäisches Arzneibuch» heisst, trägt das Werk in der Schweiz den Titel «Europäische Pharmakopöe», mit der Ergänzung «Schweizer Ausgabe». Soviel Individualität muss sein.

Ausblick in die Zukunft

Wird es in Zukunft diesen Aufwand zur Erstellung einer deutschsprachigen Ausgabe noch brauchen? Erledigt das nicht bald einmal die künstliche Intelligenz? Übersetzung ist eine komplexe Tätigkeit, die von Computerprogrammen nur unzureichend ausgeführt wird. Denn Wort-zu-Wort-Übersetzungen sind häufig nicht sinnvoll.

Beispielsweise kann das englische Wort «to evaporate» sowohl mit «verdampfen» als auch mit «verdunsten» übersetzt werden. Beides kann richtig sein, je nachdem, ob in dem Prozess Wärme zugeführt wird oder nicht. Die richtige Übersetzung hängt also vom Kontext ab. Dies gilt erst recht für detaillierte pflanzlichen Drogenbeschreibungen oder komplexe Apparaturen.
Die künstliche Intelligenz müsste schon viel spezifisches Expertenwissen gespeichert haben und korrekt anwenden können.

Werden bei der Übersetzung offensichtliche Fehler im Original, missverständliche Formulierungen oder Diskrepanzen zwischen dem englischen und französischen Originaltext festgestellt, so werden diese ans Sekretariat der Europäischen Arzneibuchkommission gemeldet. Daraus ergeben sich nicht selten Berichtigungen und Revisionen der Originalausgaben, wodurch auch ein kleiner Beitrag zur Verbesserung des Originals geleistet wird. Diese Chance würde uns mit einem Übersetzungsprogramm sehr wahrscheinlich entgehen.

So bleibt in naher Zukunft die Übersetzung in den Händen dieser hochmotivierten Mitglieder der Redaktionskonferenz, die mit Freude und Engagement weiterhin um jede Formulierung ringen, am Stil feilen und sich in neue Themen einarbeiten, damit eine deutschsprachige Ausgabe für den Gebrauch zur Verfügung steht, die die Anwendung der Vorgaben und Hilfestellungen im «pharmazeutischen Alltag» verständlich und damit leichter und fehlerfreier macht.

Es ist ein Beitrag an die Arzneimittelsicherheit in den deutschsprachigen Ländern, auch wenn sich «das Deutsch» in diesen Ländern durchaus unterscheidet.

Das erklärt die mit einem Augenzwinkern geäusserte Feststellung eines Mitglieds der Redaktionskonferenz der ersten Stunde:

«Deutsche, Schweizer und Österreicher unterscheiden sich durch nichts so sehr wie durch ihre gemeinsame Sprache»

 

Mehr Informationen zur Europäischen Pharmakopöe finden Sie unter www.edqm.eu

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