11 / 2025
Warum Swissmedic auf Unterschiede achtet

Sicherheit und Wirksamkeit von Arzneimitteln brauchen Vielfalt

Bei der Zulassung neuer Arzneimittel und Therapien berücksichtigt Swissmedic neben Alter und ethnischer Herkunft auch geschlechtsspezifische Faktoren. Nach der Marktzulassung wird das Nutzen-Risiko-Verhältnis weiterhin überprüft: auch im Hinblick auf mögliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen – ein Bereich, in dem eine stärkere Sensibilisierung erforderlich ist.
Elena Gobet, Christine Haenggeli, Frédérique Rodieux
Aus dem Bereich Zulassung und Vigilance: Elena Gobet, Christine Haenggeli und Frédérique Rodieux erläutern, wie geschlechtsspezifische Faktoren bei der Zulassung und Überwachung von Arzneimitteln berücksichtigt werden.

Wie kann sichergestellt werden, dass ein Arzneimittel für alle, die es benötigen, wirklich geeignet ist? Wie ein Medikament wirkt, kann sich je nach Geschlecht, Alter oder Herkunft unterscheiden. Swissmedic prüft diese Faktoren schon bei der Zulassung – und beobachtet auch nach Markt-einführung, wie sich Arzneimittel in der Praxis bewähren.

Wie repräsentativ ist die Studie?

Eine der Kernaufgaben von Swissmedic ist es, dafür zu sorgen, dass die Schweizer Bevölkerung Zugang zu wirksamen und sicheren Therapien hat. «Beim Zulassungsverfahren für neue Arzneimittel überprüfen wir die klinischen Studienergebnisse, die von pharmazeutischen Firmen eingereicht werden und bewerten das Nutzen-Risiko-Verhältnis», erklärt Christine Haenggeli, Leiterin der Abteilung Clinical Assessment.

Damit eine Zulassung erfolgen kann, müssen die Studien möglichst repräsentativ für die Zielgruppen sein, für die das Medikament vorgesehen ist. Das heisst: Geschlechtsspezifische Aspekte müssen beider Begutachtung durch Swissmedic berücksichtigt werden. Denn Krankheiten können sich bei Frauen und Männern unterschiedlich äussern, und dasselbe gilt für die Wirkung von Arzneimitteln. Auch Unterschiede in Ethnie und Alter werden einbezogen. «Wenn sich eine Studie nur auf eine bestimmte Patientengruppe bezieht, das Arzneimittel aber für eine breitere Anwendung zugelassen werden soll, weisen wir in der Fachinformation explizit darauf hin», so Christine Haenggeli. Auf Grundlage dieses Dokuments mit verbindlichen Angaben zur sicheren und wirksamen Anwendung eines Arzneimittels und gestützt auf die eigene klinische Erfahrung kann die Ärztin oder der Arzt dann beurteilen, ob ein Arzneimittel individuell geeignet ist.

«Frauen melden durchschnittlich 1,5- bis 2-mal häufiger unerwünschte Wirkungen bei Arzneimitteln als Männer.»

Frédérique Rodieux

Fixe Geschlechterquoten gibt es nicht

«Es gibt keine fixen Quoten für Frauen und Männer in klinischen Studien», erklärt Elena Gobet, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Clinical Assessment. «Der Anteil der Geschlechter muss jedoch repräsentativ für die beantragte Indikation sein.» Und alle Studien müssen internationalen Standards entsprechen, insbesondere der Guideline E6 «Good Clinical Practice» des ICH (International Council for Harmonisation of Technical Requirements for Pharmaceuticals for Human Use). Diese Richtlinie stellt sicher, dass Studien ethisch vertretbar und wissenschaftlich fundiert sind. Dazu gehört beispielsweise auch, dass Frauen im gebärfähigen Alter je nach untersuchtem Wirkstoff Massnahmen treffen müssen, um eine Schwangerschaft während der Studie zu verhindern und potenzielle Risiken für das ungeborene Kind auszuschliessen.

Elena Gobet
Elena Gobet

Nach der Zulassung: Realitätscheck durch die Marktüberwachung

Auch nach der Zulassung eines Arzneimittels bleibt Swissmedic aktiv: Das Nutzen-Risiko-Verhältnis wird laufend überprüft – im Rahmen der sogenannten Pharmacovigilance. Frédérique Rodieux, Vigilance Assessor, Abteilung Arzneimittelsicherheit, begründet: «Klinische Studien werden mit einer begrenzten Zahl von ausgewählten Patientinnen und Patienten über eine begrenzte Zeit durchgeführt. Nach der Zulassung hingegen erhält ein viel grösserer Personenkreis mit vielfältigen Eigenheiten das Arzneimittel: Personen aller Altersgruppen, mit unterschiedlichen Krankheiten und teilweise weiteren gleichzeitigen Behandlungen.»

Diese Heterogenität kann die Wirksamkeit und Sicherheit von Arzneimitteln beeinflussen. Die Marktüberwachung sammelt deshalb sogenannte Real-Life-Daten aus dem tatsächlichen Alltag der Patientinnen und Patienten ausserhalb kontrollierter Studienbedingungen. «Nur so lassen sich seltene oder unerwartete unerwünschte Wirkungen erkennen und die tatsächliche Wirksamkeit und Sicherheit von Therapien unter realen Bedingungen beurteilen.»

Christine Haenggeli
Christine Haenggeli

Frauen melden häufiger unerwünschte Wirkungen

Im Rahmen dieser Marktüberwachung evaluiert Swissmedic auch, ob sich Therapien bei Frauen anders auswirken als bei Männern. «Zahlreiche Daten und Studien zeigen, dass Frauen insgesamt 1,5- bis 2-mal häufiger unerwünschte Wirkungen von Arzneimitteln melden als Männer», sagt Frédérique Rodieux. Das geringere Körpergewicht, der höhere Fettanteil oder das geringere Blutvolumen bei Frauen können beeinflussen, wie Arzneimittel im Körper aufgenommen, verteilt, verstoffwechselt und ausgeschieden werden – und somit auch wie stark und lang sie wirken.

So können gewisse Arzneimittel bei Frauen länger und in höheren Konzentrationen im Körper bleiben.

«Neben diesen biologischen Unterschieden spielen auch geschlechtsspezifische gesellschaftliche Aspekte und Verhaltensweisen eine Rolle», ergänzt Frédérique Rodieux. «Frauen bekommen häufiger Arzneimittel verschrieben als Männer. Das kann die Gefahr von Wechselwirkungen zwischen den Medikamenten erhöhen. Studien deuten ausserdem darauf hin, dass Frauen unerwünschte Wirkungen von Arzneimitteln eher wahrnehmen und melden.»

Frédérique Rodieux
Frédérique Rodieux

Sensibilisierung für geschlechtsspezifische Risiken tut not

Zeigt die Marktüberwachung signifikante Unterschiede zwischen Männern und Frauen bezüglich der Wirksamkeit oder Sicherheit eines Präparats auf, können Regulierungsbehörden wie Swissmedic reagieren und beispielsweise eine Aktualisierung der Fachinformation und der Packungsbeilage verlangen. Darin können neue geschlechtsspezifische Empfehlungen oder Vorsichtsmassnahmen festgehalten werden.

Frédérique Rodieux betont: «Das Geschlecht ist ein wichtiger Faktor bei der Reaktion auf Arzneimittel, sollte aber nicht isoliert betrachtet werden. Auch Aspekte wie Alter, Gewicht, andere Krankheiten, gleichzeitige weitere Behandlungen oder individuelle genetische Besonderheiten beeinflussen die Reaktion – und sollten entsprechend berücksichtigt werden.»

Die Marktüberwachung von Arzneimitteln stützt sich auf Beobachtungsstudien unter realen Bedingungen sowie auf anonyme Spontanmeldungen von medizinischen Fachpersonen und Patientinnen und Patienten über unerwünschte Wirkungen. «Aber diese werden längst nicht immer gemeldet», bedauert Frédérique Rodieux. Zudem fehlt bei über zehn Prozent der Fälle eine wichtige Angabe: das Geschlecht. «Ohne diese Angabe können potenziell geschlechtsspezifische Risiken kaum erkannt werden», erklärt die Expertin. Ihrer Einschätzung nach braucht es daher nicht nur vollständigere Daten, sondern auch mehr Sensibilität im Umgang damit – in der Fachwelt ebenso wie in der breiten Bevölkerung.