Nachgefragt bei Markus Wälti, Leiter Medical Devices Vigilance und Aurélie Drapela, Senior wissenschaftliche Mitarbeiterin «Eine Meldung ist kein Schuld­eingeständnis – sie dient der Produkt­verbesserung»

Was unterscheidet die Materiovigilance grundsätzlich von der Pharmacovigilance?

Markus Wälti: Zum einen die immense Vielfalt der über 500 000 Medizinprodukte, mit denen wir es zu tun haben: von der Kontaktlinse bis zur Insulinpumpe, vom Endoskop bis zum Herzschrittmacher. Zum anderen gibt es für Medizinprodukte keine behördliche Zulassung, sondern sie werden durch eine Konformitätsbewertung gleichzeitig in der EU und in der Schweiz marktfähig. In der Medizintechnik schreitet die Innovation schneller voran als bei Arzneimitteln, weil Anpassungen sich häufig schneller realisieren lassen.
Aurélie Drapela: Bei Arzneimitteln gibt es für jedes Produkt ein Dossier bei Swissmedic – wir hingegen hören von manchen Medizinprodukten erst, wenn eine Meldung dazu eingeht. Für einen besseren Überblick wird deshalb zurzeit die Datenbank ‹swissdamed› entwickelt, in die alle hierzulande verfügbaren Medizinprodukte registriert werden müssen, um Transparenz zu schaffen.

Trotz dieser Unterschiede bleibt das übergeordnete Ziel gleich, oder?

Aurélie Drapela: Genau. Es geht immer um die Patientensicherheit. Wir wollen, dass Produkte im Markt kontinuierlich verbessert werden.

Wie viele Meldungen über Vorkommnisse erhalten Sie pro Jahr?

Markus Wälti: Im letzten Jahr wurden uns rund 5300 Vorkommnisse gemeldet. Wer Medizinprodukte herstellt oder anwendet, ist verpflichtet, schwerwiegende Vorkommnisse zu melden – und das auch, wenn glücklicherweise niemand zu Schaden gekommen ist. Wir bekommen einzelne Meldungen von Arztpraxen, Patientinnen oder Patienten, am meisten jedoch von den Herstellern selbst sowie über die Vigilance-Kontaktpersonen aus den Spitälern.

«Unsere Aufgabe liegt darin, Signale und Trends zu erkennen und Meldungen kritisch zu hinterfragen.»
Markus Wälti
Nimmt die Anzahl der Meldungen zu?

Markus Wälti: Sie hat sich in den letzten 15 Jahren mehr als verzehnfacht. Ein Grund ist vermutlich die strengere Regulierung. Zum anderen tragen wahrscheinlich auch demografische Veränderungen und der technologische Fortschritt dazu bei: Es gibt mehr Menschen in der Schweiz, sie werden älter, so gibt es mehr Gebrechen und Operationen. Zugleich gibt es immer mehr Medizinprodukte – darunter auch komplexe Produkte wie Operationsroboter oder Implantate aller Art.
Aurélie Drapela: Swissmedic ist sicher auch nicht ganz unschuldig an diesem Anstieg. Denn wir haben in den letzten Jahren vermehrt sensibilisiert, interveniert und Inspektionen durchgeführt. Wenn die Hersteller merken, dass wir hinschauen, nehmen sie die Meldepflicht auch besser wahr.

Ihr Team ist in der gleichen Zeit nur drei Mal grösser geworden.

Markus Wälti: Wir konnten durch Digitalisierungsprozesse die Zeit pro Fallbearbeitung beinahe halbieren. In unserem Team mit derzeit 19 Mitarbeitenden findet ein reger interdisziplinärer Austausch statt. Diese ‹Schwarmintelligenz› und die langjährige Erfahrung der Teammitglieder sorgen für Effizienz und gute Ergebnisse. Eine Person ist für etwa 80 bis 120 offene Fälle zuständig. Dabei kann es von weniger als zehn Minuten bis zu mehreren Jahren dauern, bis ein Fall abgeschlossen werden kann. Die Herausforderung besteht darin, alles detailliert zu dokumentieren, sich zu erinnern und sauber zu arbeiten.
Aurélie Drapela: In der Materiovigilance verfolgen wir einen risikobasierten Ansatz. Einfach ausgedrückt: Klebt ein Heftpflaster nicht optimal, muss der Hersteller nicht gleich die gesamte Charge zurückrufen. Aber bei Defibrillatoren, deren Batterien nur halb so lange halten wie vorgesehen, müssen die Batterien dringend ersetzt werden.

Stichwort Enforcement:
Wo ist die Materiovigilance hier verortet?

Aurélie Drapela: Wir stehen am Anfang der Enforcement-Kette: im Bereich der Überwachung und der Sachverhaltsklärung. Die Arbeit ist spannend und anspruchsvoll. Wenn wir das Gefühl haben, etwas geht nicht auf oder wird vielleicht gar verschleiert, dann haken wir nach. Es ist manchmal wirklich Detektiv-Arbeit. Unsere Herangehensweise ist nicht schuldzuweisend, sondern darauf ausgerichtet, sicherzustellen, dass aus den Geschehnissen die korrekten Schlüsse gezogen werden. Wir beurteilen zwar auch Einzelfälle, aber der Fokus liegt auf dem Gesamtüberblick.
Markus Wälti: Unsere Aufgabe liegt darin, dem Inhalt jeder Meldung auf den Grund zu gehen, Signale und Trends zu erkennen. Für uns steht die Patientensicherheit im Vordergrund.

Welche Massnahmen zur Produktverbesserung können konkret veranlasst werden?

Aurélie Drapela: Es kann zu sogenannten Field Safety Corrective Actions (FSCA) kommen. Dabei ergreift der Hersteller Massnahmen, um potenzielle Gesundheitsgefahren zu minimieren. Das kann ein physischer Rückruf sein, aber auch ein Software-Update oder verbesserte Anwender-Informationen. Im Extremfall und nach gründlicher Risikoabwägung kann es auch nötig sein, im Interesse der Patientensicherheit ein bereits implantiertes Produkt wieder zu explantieren. Eine FSCA kann durchaus auf unser Betreiben hin ausgelöst werden – weil wir so viele kritische Fragen stellen. Wir überwachen dann den Prozess der FSCA: Werden die Kundinnen und Kunden effektiv informiert? Sind die ergriffenen Massnahmen zur Produktverbesserung sinnvoll? Wird der Zeitplan eingehalten?
Markus Wälti: Finden wir keine gemeinsame Lösung, geht es in die nächsten Instanzen. Zum Beispiel kann im Rahmen von Verwaltungsverfahren auch gegen den Willen eines Herstellers eine Massnahme verfügt werden – dann aber übernimmt das Swissmedic-Team der Abteilung Medical Devices Surveillance (MDS).

Markus Wälti
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Aurélie Drapela
Aurélie Drapela