Nachgefragt bei Thomas Stammschulte, Leiter Pharmacovigilance «Für eine Meldung muss kein Kausalzusammenhang nachgewiesen werden – ein Verdacht genügt»
Welche spezifischen Aufgaben hat die Pharmacovigilance?
Die Pharmacovigilance stellt sicher, dass zugelassene Arzneimittel ein günstiges Nutzen-Risiko-Profil aufweisen. Dazu befasst sich unser Team mit der Aufdeckung und Prävention von unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW): Wir erfassen und bewerten Meldungen von Verdachtsfällen und leiten Massnahmen ein, um neue Risiken für die Patientinnen und Patienten zu minimieren. Zudem überwachen wir, ob die Zulassungsinhaberinnen ihren gesetzlichen Verpflichtungen nachkommen, auch durch regelmässige Inspektionen.
Wer meldet Verdachtsfälle?
Meldungen kommen von Herstellern oder Zulassungsinhaberinnen, dem medizinischen Fachpersonal – und seit der Covid-Impfkampagne auch vermehrt von Patientinnen und Patienten. Besonders wichtig ist hier die enge Zusammenarbeit mit unseren fünf regionalen Pharmacovigilance-Zentren an verschiedenen Universitätsspitälern.
Die Pharmacovigilance beruht auf Spontanmeldungen.
Was sind die Vor- und Nachteile?
Eine passive Überwachungsstruktur – das mag negativ tönen. Tatsächlich ist sie aber nach wie vor das wichtigste Instrument, um unbekannte und seltene Nebenwirkungen frühzeitig zu identifizieren. Die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA berichtete kürzlich, dass mehr als 80 Prozent der Aktualisierungen der Produktinformationen von Arzneimitteln auf Erkenntnissen aus Spontanmeldungen beruhen. Dieses System bietet einen Überblick über Nebenwirkungen, die im Alltag auftreten, und zwar sowohl bei neuen als auch bei «alten» Arzneimitteln. Oft wird vergessen, dass gerade Spontanmeldungen schnelle regulatorische Reaktionen ermöglichen: Das hat sich zum Beispiel gezeigt bei den Covid-Impfungen, wo rasch gehandelt werden konnte, als allergische Reaktionen gemeldet wurden.
«Swissmedic kann ein breites Spektrum an Massnahmen durchsetzen, um die Sicherheit von Arzneimitteln zu verbessern.»
Welche Fälle sind meldepflichtig?
Gemäss Heilmittelgesetz müssen schwerwiegende und unbekannte UAW gemeldet werden. Besonders wichtig sind für uns auch Fälle, zu denen wir wenig Daten aus Studien haben, zum Beispiel wenn Kinder oder Schwangere betroffen sind. Für eine Meldung muss dabei kein Kausalzusammenhang nachgewiesen werden – ein Verdacht genügt. Und das Melden ist online über das Elektronische Vigilance System (ElViS) einfach und sicher in der Datenübertragung. Unser interdisziplinäres Team prüft dann jede Meldung zeitnah. Wir klären, ob es sich um eine UAW handeln könnte oder ob andere Faktoren eine Rolle spielen. Dieser Prozess erfordert Erfahrung und medizinisches Fachwissen. Im letzten Jahr haben wir über 15 000 Meldungen bearbeitet.
Stichwort Enforcement – welche Massnahmen kann Swissmedic ergreifen?
Wenn wir von einem bisher unbekannten Risiko eines Arzneimittels ausgehen, stehen verschiedene Massnahmen zur Verfügung: Wir nehmen Kontakt mit dem Hersteller auf und können zum Beispiel verfügen, dass die UAW in die Fachinformation aufgenommen werden muss. Oder ein Arzneimittel darf für eine bestimmte Personengruppe nicht mehr angewendet werden. Oder wir verlangen Anpassungen bei der Dosierung oder bei notwendigen Labortests.
Was kann Swissmedic ausser diesen Anpassungen der Fachinformation anordnen?
Wenn ein neu erkanntes Risiko beispielsweise eine unmittelbare Änderung der Verschreibungspraxis erfordert, muss die Zulassungsinhaberin eine «Direct Healthcare Professional Communication (DHPC)» verschicken, also eine gezielte Information zuhanden der medizinischen Fachperson.
Auch kann es bei bestimmten Risiken notwendig sein, dass Hersteller spezifische Schulungsunterlagen erstellen, etwa Checklisten für medizinische Fachpersonen, mit denen vor einer Verschreibung bestimmte Risikofaktoren für Nebenwirkungen abgeklärt werden.
Können die Enforcement-Massnahmen bis zum Rückruf oder zur Sistierung der Zulassung gehen?
Durch die gründliche Überprüfung der Sicherheit vor der Zulassung und effektive Massnahmen zur Minimierung festgestellter Risiken kommt dies nur sehr selten vor. In jüngerer Vergangenheit wurde einmal für ein Medikament gegen Multiple Sklerose die Zulassung freiwillig vom Hersteller widerrufen, nachdem sich schwerwiegende Nebenwirkungen gezeigt haben. Diese wurden übrigens durch Spontanmeldungen festgestellt.
Wie kooperiert die Pharmacovigilance national und international mit anderen Organisationen?
Auf nationaler Ebene arbeiten wir eng mit den regionalen Zentren zusammen, aber auch mit den Kantonsärzten und -apothekerinnen und auf verschiedenen Ebenen mit der Pharmaindustrie. Wir informieren und schulen medizinisches Fachpersonal und auch Mitarbeitende der Industrie: unter anderem durch Vorlesungen, den Vigilance-News, Blog-Beiträge zu aktuellen Fällen auf der Website von Swissmedic und Erklärvideos. Auch der regelmässige Austausch mit Patientenorganisationen gehört dazu.
Da Probleme der Arzneimittelsicherheit keine Landesgrenzen kennen, kooperieren wir schon seit Jahrzehnten intensiv mit Arzneimittelbehörden weltweit. Der globale elektronische Austausch von Meldungen in einem einheitlichen Format über die WHO-Datenbank und die Anwendung internationaler Standards ermöglichen die Auswertung internationaler Signale – was entscheidend zur Arzneimittelsicherheit in der Schweiz beiträgt.

