Nachgeforscht

Antibiotikaresistenzen Die stille Pandemie

Je häufiger wir Antibiotika einsetzen, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass Bakterien resistent werden. ­Und mit den resistenten ­Keimen steigt auch die Zahl der ­Patientinnen und Patienten, bei denen sich Entzündungen in ­lebensbedrohliche Infektionen verwandeln. ­Doch trotz steigender Gefahr durch multiresistente Keime verschwinden immer mehr ­Antibiotika vom Schweizer Markt. Weshalb? Und was kann Swissmedic als Zulassungsbehörde dagegen tun?

Diese Pandemie macht kaum Schlagzeilen. Sie holt ihre Toten im Stillen, meist hinter verschlossenen Spitaltüren. Die Ursachen sind manchmal nicht der Rede wert. Ein Knie, das Monate nach der Routine-OP mehr schmerzt als zuvor; oder eine Lungenentzündung, die nicht abheilen will. Grund dafür können Infektionen sein durch Keime, gegen die kein Antibiotikum mehr wirkt. Weil das entsprechende Bakterium mutiert und dadurch den Wirkmechanismus einer ganzen Antibiotikaklasse ausgehebelt hat. Die Übeltäter sind wir Menschen: Wir haben Antibiotika in den vergangenen Jahrzehnten zu breit und teilweise unsachgemäss eingesetzt. Zudem können resistente Keime übertragen werden – sie vermehren und verbreiten sich in unserer globalen Welt schnell. Ein Phänomen, das dem «One- Health»-Prinzip entspricht: Die Gesundheit aller Lebewesen sowie der Umwelt ist miteinander verflochten – auch was den Antibiotikaeinsatz angeht.

Antibiotika nicht rentabel

Dabei sind Antibiotika bis heute überlebenswichtig. Bei schweren Infektionen wie Blutvergiftungen ebenso wie prophylaktisch bei Chemotherapien, Operationen und Transplantationen. «Die Bedeutung von Antibiotika ist immens», betont Charlotte Geluk, die bei Swissmedic dafür zuständig ist, klinische Daten zur Wirksamkeit und zur Sicherheit von Arzneimitteln zu begutachten. Ohne Antibiotika wäre die Medizin nie so weit, wie sie heute ist. Viele Behandlungen und Operationen wären gar nicht möglich, und auch zahlreiche Unfallpatienten hätten eine viel schlechtere Prognose. Noch vor 20 Jahren waren multiresistente Keime kaum ein Thema. Heute geht die WHO davon aus, dass weltweit jährlich Millionen Menschen an multiresistenten Keimen sterben. Die Tendenz ist stark steigend.

Die Welt bleibt nicht untätig – es laufen viele Programme, um den Einsatz von Antibiotika zu senken. Auch in der Schweiz gibt die nationale «Strategie Antibiotikaresistenzen Schweiz» (StAR) auf Bundesebene erfolgreiche Impulse für einen sachgerechteren Einsatz von Antibiotika: Sie werden heute bei vielen Krankheiten, etwa Mittelohrentzündung oder Angina, nicht mehr standardmässig und auch in der Veterinärmedizin weniger eingesetzt. Doch die Infektionen durch multiresistente Keime nehmen trotz dieser Bemühungen zu.

Die Situation verschärft sich, doch es kommen kaum neue Antibiotika auf den Markt. Weltweit beteiligen sich nur eine Handvoll Pharmafirmen an der Entwicklung von Antibiotika. In der Schweiz haben sich forschende Unternehmen aus dem Antibiotikamarkt zurückgezogen. Dieses Desinteresse spürt auch Swissmedic: Unter den über 12 000 Zulassungsgesuchen, die Swissmedic im Jahr 2022 bearbeitet hat, gab es 47 Erstzulassungen, also Arzneimittel, die neu auf den Markt kamen. Diese Zahl ist laut Claus Bolte, Chief Medical Officer bei Swissmedic, relativ hoch. Dies auch im Vergleich zu den Zulassungen bei der europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) oder bei der amerikanischen Behörde (FDA). Zulassungen für neue Antibiotika jedoch waren im vergangenen Jahr bis auf eine Ausnahme keine darunter. «Wir sind froh, wenn alle zwei Jahre ein Gesuch für ein Antibiotikum bzw. eine neue antimikrobielle Substanz dabei ist», sagt Claus Bolte, «aber eigentlich ist das zu wenig.» Er arbeitet seit elf Jahren für Swissmedic; bis Mitte 2023 war er für die Zulassung von Arzneimitteln in der Schweiz verantwortlich. Er beobachtet die Resistenzentwicklung mit grosser Besorgnis.

Claus Bolte
Claus Bolte
Cedric Müntener
Cedric Müntener
Anreize sind gefragt

Die Situation entspanne sich auch dann nicht, wenn tatsächlich mal ein neues Antibiotikum lanciert und zugelassen werde, sagt Claus Bolte: «Es wird dann entsprechend der klinischen Studien sehr eingeschränkt eingesetzt – oft nur dann, wenn andere Antibiotika nicht mehr wirken.» Die neuen Antibiotika sind sozusagen die Joker der Intensivstationen. Sie werden als Reserven aufbewahrt – für jene Personen, bei denen es nach einer Infektion mit multiresistenten Keimen um Leben und Tod geht. Das führt dazu, dass ihr Absatz sehr tief ist – und sich die hohen Kosten für die Entwicklung bis zur Marktreife aus wirtschaftlicher Sicht nicht lohnen: «Die meisten Pharmafirmen haben sich aus diesem Grund aus dem Antibiotikamarkt zurückgezogen», sagt Claus Bolte. Auch für Forschende, die viel Engagement und Ressourcen in die Grundlagenforschung investierten – unterstützt durch den Schweizerischen Nationalfonds und andere Geldgeber – sei diese Situation sehr frustrierend, bedauert er: «Sie machen hierzulande hervorragende Arbeit, doch dann finden sie keine Firma, die in ihre Erkenntnisse investiert.»

Entwicklung und Produktion relevanter Arzneimittel in die Schweiz holen, um die Gesundheitsversorgung sicherzustellen? «Das wäre wünschenswert», so Claus Bolte. Er sagt aber auch: «Die Schweiz ist einer der bedeutendsten Pharmastandorte weltweit, aber wir haben keine Grundlage, Firmen zu zwingen, bei uns zu entwickeln, herzustellen oder einzureichen. In einem freien und gut regulierten Markt funktioniert dies nur über Anreize.» Das heisse nicht, dass man nicht nach Lösungen suche. Es gebe mehrere nationale und internationale Netzwerke, runde Tische – etwa der «Roundtable Antibiotics» – sowie Zulassungskooperationen, die neue Ansätze diskutieren und eng zusammenarbeiten. Im Konsortium ACCESS beispielsweise arbeitet die Schweiz mit den Partnerbehörden von Australien, Kanada, Singapur und Grossbritannien an Lösungen. Doch die Zeit dränge, betont Claus Bolte: «Wir müssen Antibiotikaresistenzen genauso ernst nehmen wie Krebs.»

Innovativere Ansätze

Claus Bolte fordert deshalb bessere Anreize für Start-ups, Spin-offs, KMU und auch für Grossunternehmen, damit diese wieder vermehrt in die Entwicklung von Antibiotika investieren. Denn: «Resistenzen sind global, Zulassungen aber national.» Einige Länder hätten bereits innovative Vergütungssysteme und Anreize eingeführt, sagt er. Beispielsweise das sogenannte «Netflix-Modell». Bei diesem gilt: Ein Land oder eine Region bezahlt dem Hersteller eine jährlich fixe Jahresgebühr – wie bei einem Abonnement – egal ob, beziehungsweise wie viel Antibiotika sie beziehen.

Claus Bolte appelliert auch dringend an die Industrie, denn: «Bei der Entwicklung von Antibiotika sind wir im letzten Jahrhundert stecken geblieben.» Ganz im Gegensatz zur Onkologie, wo jährlich mehrere neue Wirkstoffe auf den Markt kämen. «Es braucht auch gegen Infektionen innovativere Ansätze. Beispielsweise eine personalisierte Präzisionsmedizin – sie hat die Entwicklung von Arzneimitteln bei vielen Krebserkrankungen revolutioniert.» So könnten künftig – auch mithilfe Künstlicher Intelligenz – neue Wirkstoffe gezielt für spezifische Eigenschaften einzelner Bakterien entwickelt und fortlaufend angepasst werden.

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«Der Impact der Tiermedizin»

In der Tiermedizin wird die Abgabe von Antibiotika streng kontrolliert. Wie sich die Situation in der Veterinärmedizin von jener in der Humanmedizin unterscheidet, erklärt Tierarzt Cedric Müntener von Swissmedic.

Cedric Müntener, wie gross ist das Problem mit Antibiotikaresistenzen bei den Tieren?
Das Thema ist auch in der Veterinärmedizin sehr aktuell.

Viele Menschen meiden Pouletfleisch wegen Bedenken bezüglich Bakterien und Antibiotikaeinsatz. Was ist da dran?
Wir haben da wenig zu befürchten – die strengen Lebensmittelvorschriften erlauben keine bedenklichen Rückstände von Tierarzneimitteln im Fleisch oder in anderen Lebensmitteln. Die erlaubten Grenzwerte sind ausserdem so berechnet, dass allfällige Rückstände auch bei einer lebenslangen täglichen Aufnahme nicht bedenklich wären. Eine Übertragung von Resistenzen via Fleischkonsum wird sowieso nicht durch Antibiotikarückstände im Fleisch, sondern durch den Kontakt mit resistenten Bakterien auf dem Fleisch verursacht. Trotzdem ist der Einsatz von Antibiotika als Wachstumsförderer in Ländern wie Brasilien, Kanada oder den USA ein grosses Problem.

Wieso?
Erstens geraten die Substanzen über die Ausscheidungen der Tiere in Böden und Wasser, wo sie für längere Zeit verbleiben. Zweitens fördern sie Resistenzen, weil die Antibiotika über längere Zeit in sehr kleinen Dosen verabreicht werden. Die Dosen sind nicht gross genug, um Bakterien abzutöten. So wird ein perfekter Nährboden für resistente Keime geschaffen. Daher: Wenn Antibiotika, dann bitte kurz und hoch genug dosiert. Das gilt bei Tieren wie auch bei Menschen. Drittens können sich resistente Keime von Tieren auf Menschen übertragen ­­und sich in der globalisierten Welt schnell weiterverbreiten.

Sie sind bei Swissmedic für die Zulassung von Tierarzneimitteln verantwortlich. Wie streng sind hier die Vorschriften?
In der Schweiz und in der EU dürfen Antibiotika nur zum Behandeln von Infektionen eingesetzt werden. Der Einsatz als Wachstumsförderer ist hier verboten. Ausserdem steht bei Nutztieren die Lebensmittelsicherheit immer an erster Stelle. Die Abgabe von Antibiotika wird sehr streng reglementiert und überwacht. Wer Antibiotika verkauft oder einsetzt, muss dies über eine nationale Datenbank, betrieben vom Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV), ­melden. Die Tiermedizin in Europa hat deshalb vermutlich einen kleinen Impact auf Resistenzbildungen.

Wie sieht es bei den Zulassungen für Antibiotika aus? Sinkt die Anzahl der Gesuche auch in der Veterinärmedizin?
Ja. Die Lage ist teilweise noch viel ernster. Bei Kleintieren dürfen Humanarzneimittel, darunter Antibiotika, mit sehr wenigen Einschränkungen und ohne spezifische Genehmigung eingesetzt werden. Bei Nutztieren sind hingegen nur eigens für sie zugelassene Antibiotika erlaubt. Somit dürfen bei ihnen viele Antibiotika, die für Menschen zugelassen sind, nicht eingesetzt werden. Um die antibiotische Wirksamkeit zu erhalten, hat das BLV ausserdem Empfehlungen publiziert, wie Nutz- und Kleintiere behandelt werden sollen. Leider verschwinden jedoch immer mehr der empfohlenen «älteren» Antibiotika vom Markt, und wir müssen sie durch neuere ersetzen. Deren Einsatz kann jedoch wiederum problematische Resistenzen mit sich bringen. Um solche zu vermeiden, wird daher versucht, den Einsatz von Antibiotika zu reduzieren oder zu verhindern. Etwa durch Impfungen, strenge Hygienevorschriften und andere gesundheitsfördernde Massnahmen.