Nachgeforscht

Raimund Bruhin im Gespräch mit Joël Cachelin «Zuerst die Mission, danach die Vision.»

Swissmedic-Direktor Raimund Bruhin und Zukunftsforscher Joël Cachelin schauen gemeinsam in die Zukunft: Sie spielen sich gegenseitig den Ball zu, befragen sich in einem persönlichen Gespräch über die künftigen Entwicklungen und das Erkennen von Trends und diskutieren, ob eine generelle Prognosestellung überhaupt möglich ist. Zudem beleuchten sie gemeinsam die Planbarkeit der Swissmedic-Strategie sowie die künftigen Herausforderungen des Schweizerischen Heilmittelinstituts.

Raimund Bruhin (RB): «Herr Cachelin, was alles macht ein Zukunftsforscher?»

Joël Cachelin (JC): «Ich unterstütze Unternehmen in Zukunftsfragen. Es ist eine Mischung aus Beraten, Begleiten, Inspirieren und Referieren. Meine Arbeit hat vor allem mit Lesen und Schreiben zu tun. Ich untersuche Quellen, lese Interviews und betreibe Feldforschung. Dazu kommt die Arbeit mit den Medien und in den sozialen Medien.»

JC: «Welches ist Ihre Hauptvision für Swissmedic?»

RB: «Wir wollen Swissmedic in den nächsten Jahren zu einer der fünf digital modernsten Heilmittelbehörden weltweit und so fit für die Zukunft machen. Gleichzeitig soll Swissmedic in der breiten Öffentlichkeit zu einem Synonym für schnellen Zugang zu sicheren und innovativen Heilmitteln und deren zuverlässige Überwachung während des ganzen Lebenszyklus werden. In der Politik und Wirtschaft schliesslich steht Swissmedic für Souveränität im Gesundheitssektor.»

RB: «Inwiefern kann man das Morgen überhaupt prognostizieren?»

JC: «Im Detail eigentlich gar nicht. Es gibt zu viele technische, ökologische oder geopolitische Einflussfaktoren. Aber mein Ziel ist es nicht, die Zukunft vorauszusagen, sondern Gestaltungsspielräume aufzuzeigen. Dabei können wir erkennen, welche Spannungsfelder die Zukunft prägen. Zusätzlich prüfe ich auf historischen Grundlagen, welche Trends längst begonnen haben und welche weitergehen.»

JC: «Wie freie Hand haben Sie persönlich, um die Zukunft von Swissmedic zu gestalten?»

RB: «Der Freiheitsgrad ist je nach Thema variabel. Es gibt gesetzliche Grundlagen, in denen der Auftrag für die nächsten fünf Jahre konstant und weitgehend definiert ist. Die Ausnahme bildet der Bereich Medizinprodukte: Hier brauchen wir in den nächsten Jahren neue rechtliche Grundlagen. Beim ‹Wie› kommen Strategie und Antizipation ins Spiel; dabei eröffnet sich einiges an Spielraum – vorausgesetzt man ist offen und mutig. Gute Beispiele sind unsere offene Kommunikationsstrategie, unsere zukunftsorientierte IT-Strategie sowie unser Mindset in Bezug auf die Digitalisierung. Fakt ist: Wir sind eine Behörde. Bei uns kommt immer zuerst die Mission und danach erst die Vision.»

RB: «Auf welchen Methoden stützen Sie Ihre Studien ab und wie zuverlässig sind Ihre Resultate?»

JC: «Grundsätzlich nutze ich drei Quellen: Ich lese Bücher, ich nutze Science-Fiction als Inspiration und schliesslich stütze ich mich auf Gespräche und Beobachtungen in Unternehmen, mit denen ich mich austausche. Daraus ergibt sich meine eigene Gedankenwelt, in der ich mich bewege. Ich bin aber kein Zukunftsforscher, der voraussagt, was im Jahr 2070 passiert. Ich arbeite auch nicht quantitativ. Mir ist es wichtiger, dass mein Publikum sich neue Fragen stellt, als dass es die Wahrscheinlichkeit eines Trends kennt.»

JC: «Wie viele Jahre planen Sie bei Swissmedic zum Voraus?»

RB: «Konkret sind es fünf Jahre. Allerdings versuchen wir gleichzeitig die Weichen für die Zeit darüber hinaus zu stellen und einen Grundstein für eine nachhaltige Entwicklung bis mindestens 2030 zu legen. Klar ist: Wir stehen vor einer Innovationsphase, die schätzungsweise bis 2026 dauert. Danach folgt höchstwahrscheinlich eine Konsolidierungsphase. Insgesamt ist und bleibt es aber dynamisch.»

RB: «Sie sind ja auch Trendforscher; wie erkennt man die Trends von morgen?»

JC: «Ich sehe mich eher als Zukunftsforscher, der sich mit dem langfristigen Wandel auseinandersetzt. Bei den kurzfristigen Trends geht es mehr um Konsumgüter und Lifestyle. Wer diese erkennen will, geht zum Beispiel in die Grossstädte in Asien.»

Raimund Bruhin und Zukunftsforscher Joël Cachelin

«Wir wollen Swissmedic in den nächsten Jahren zu einer der fünf digital modernsten Heilmittelbehörden weltweit machen.»

Raimund Bruhin
Raimund Bruhin und Zukunftsforscher Joël Cachelin
Raimund Bruhin und Zukunftsforscher Joël Cachelin
JC: «Was unternehmen Sie, wenn Swissmedic in Zukunft immer mehr im Fokus steht?»

RB: «Mehr als in den vergangenen Jahren können wir kaum im Fokus stehen. Wir haben dies vorausgesehen und unsere Kommunikationsstrategie vor zwei Jahren neu ausgerichtet, unter anderem indem wir unsere Social-Media-Präsenz ausbauten und uns bewusst der Öffentlichkeit stellten. Um dieses qualitative und quantitative Kommunikationsniveau zu erreichen, mussten wir uns auch personell verstärken. Im Vordergrund steht der Austausch mit den Patientinnen und Patienten sowie unseren Stakeholdern. Die Kommunikation stellt für Swissmedic heute ein wichtiges Führungsinstrument dar.»

RB: «Unsere Gesellschaft und auch die Forschung verändern sich zurzeit immer rascher. Wird dies auch in Zukunft so bleiben?»

JC: «Stimmt diese These wirklich? Es gab schon früher sehr markante Veränderungen, die unser Leben genauso wie das iPhone verändert haben. Ich denke zum Beispiel an den Bau der Eisenbahn oder die ersten Wolkenkratzer. Auf der anderen Seite glaube ich, dass wir im digitalen Bereich eine Phase der Konsolidierung erleben. Zumindest was die Geräte in unserem Alltag betrifft. Ich zweifle, ob unsere Gesellschaft zurzeit bereit ist für smarte Brillen, Ringe und Kontaktlinsen. Es gibt im Übrigen auch ökologische Gründe, die gegen noch mehr Computertechnologie sprechen. Deshalb denke ich, dass die grossen Veränderungen in diesem Jahrhundert eher Fragen unseres Zusammenlebens betreffen. Wir landen dann bei Themen wie der Viertagewoche, dem Veganismus oder dem Bauen mit recycelten und wiederverwendbaren Elementen.»

JC: «Auf welche nächsten Herausforderungen freuen Sie sich am meisten?»

RB: «Unsere Digitalisierungsoffensive wird spannend, insbesondere auch die Umsetzung der neuen IT-Strategie inklusive Integration von Elementen aus der Künstlichen Intelligenz, des neuen technologischen Know-how sowie der Elemente der aktiven Marktüberwachung. Aber auch die weitere Etablierung unserer Position, und zwar sowohl national als auch international, ist ein anspruchsvolles Vorhaben. Gerade in der Kooperation mit anderen Regulierungsbehörden steckt noch Potenzial, selektiv Themen und Projekte zu fördern, die auch in unserem Interesse sind.»

«Ich kann mir gut vorstellen, dass sich dadurch unsere Lebenserwartung mittelfristig nochmals um 10–20 Jahre steigert.»

Joël Cachelin
RB: «Welche medizinischen Trends werden in den nächsten Jahren dominieren – und welche Unternehmen werden Ihrer Ansicht nach im Lead sein?»

JC: «Das sind einige: Beispielsweise die Telemedizin inklusive neuer Möglichkeiten in Bezug auf Diagnostik und Prävention. Weitere Trends sind für mich die psychische Gesundheit inklusive einer stärkeren Vermischung von Health und Lifestyle. Durch die Covid-Pandemie wurde sehr viel Geld in die mRNA-Technologie investiert. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich dadurch unsere Lebenserwartung mittelfristig nochmals um 10–20 Jahre steigert. Allgemein ist der demografische Wandel natürlich ein Thema, das die Medizin der Zukunft stark prägen wird.»

JC: «Speziell die Welt der Medizin verändert sich gerade im Eiltempo. Wie stellen Sie sicher, dass die Institution Swissmedic da mithält?»

RB: «Wir unterhalten ein sogenanntes Horizon Scanning, mit dem wir unser gesamtes Umfeld dauernd beobachten und dank dem wir antizipieren können, sodass wir unsere Organisation und Geschäftsbereiche rechtzeitig anpassen können. Dank unseren ausgefahrenen Antennen wissen wir auch bereits, was in Bezug auf neue Medikamente auf uns zukommt – beispielsweise aus den Bereichen Arzneimittel für neuartige Therapien ATMP, Zell- und Gentherapie oder mRNA.»

RB: «Welche Themen soll sich Swissmedic aus Ihrer Sicht besonders annehmen?»

JC: «Ich denke, wichtig ist die Tatsache, dass Algorithmen in der Medizin der Zukunft genauso wichtig werden wie Pillen. Damit verbunden sind Chancen und Gefahren einer personalisierten Medizin. Swissmedic sollte sich fragen, wer die Daten sammelt, die etwas über unsere Gesundheit aussagen. Man könnte auch prüfen, was die Künstliche Intelligenz tatsächlich optimiert, die von Medizinunternehmen eingesetzt wird. Geht es zum Beispiel um Gesundheit, um Erträge, um Langlebigkeit?»

JC: «Swissmedic ist in den letzten Jahren enorm gewachsen. Wohin geht die Reise diesbezüglich?»

RB: «Grund für die Zunahme waren vor allem ein Nachholbedarf und natürlich zusätzliche Aufgaben. Wir werden kurz- bis mittelfristig noch etwas weiterwachsen. Das zentrale Ziel bleibt die Auftragserfüllung auf dem heutigen und künftig geforderten Niveau. Wachstum ist kein Selbstzweck.»

RB: «Herr Cachelin, was bringt die Zukunft für Swissmedic?»

JC: «Zum einen könnte sich Swissmedic fragen, wie man die bestmöglichen Mitarbeitenden findet, um mit den Technologien und Fragestellungen der Zukunft umzugehen. Zum anderen geht es um die Gestaltung der künftigen Arbeitswelt. Sie sollte uns helfen, uns zu vernetzen, aber wir brauchen auch Möglichkeiten, um uns zu konzentrieren, uns ganz in einem Thema zu vertiefen.»

Raimund Bruhin und Zukunftsforscher Joël Cachelin